31.10.2011

Literatur und Theosophie 2

B. Seidel-Dreffke: Die russische Literatur Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts und die Theosophie E. P. Blavatskajas. Exemplarische Untersuchungen. (A. Belyj, M. A. Vološin, V. I. Kryžanovskaja, Vs. S. Solov'ev). Habilitation.Russische Literatur und Theosophie
Konzeption zur Habilitation



Die russische Literatur Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts 
und die Theosophie E. P. Blavatskajas. 
Exemplarische Untersuchungen. (A. Belyj, M. A. Vološin, V. I. Kryžanovskaja, 
Vs. S. Solov'ev). Habilitation.

HAAG+HERCHEN Verlag GmbH, Frankfurt a. M., 2004


Auszüge:





Auszug aus der Konzeption zur Habilitationsarbeit

Universität Potsdam/Institut für Slavistik
Postfach 60 15 53
14415 Potsdam


Die russische Literatur der Jahrhundertwende und die Theosophie E. P. Blavatskajas

Diese Arbeit wird von der Volkswagen-Stiftung unterstützt.

Problemstellung und wissenschaftliche Relevanz der Thematik

Theosophie (griech.) bedeutet ursprünglich Gottesweisheit, das heißt Erlangen eines höheren Wissens von Gott durch unmittelbares Erkennen und Erleben. In diesem weiteren Sinn wurde der Begriff Thesophie gern für verschiedenen von mystischen Autoren geprägte Systeme gebraucht (z. B. bei J. Böhme, E. Swedenborg u. a.) Gemeinsames Merkmal der Konzepte ist die Suche nach einem organischen, synkretistischen Weltverständnis.

Das theosophische Weltbild, um welches es in der vorliegenden Untersuchung gehen soll, bezeichnet ein im 19. Jahrhundert von der Russin E. P. Blavatskaja begründetes als relativ autonomes Denkmodell anzusehendes System. Die von E. P. Blavatskaja vor allem in ihren beiden Hauptwerken "Isis Unveiled" (1877) und "The secret Doctrine" (1888) formulierte Doktrin erhebt den Anspruch mindestens drei Wissens- bzw. Glaubensgebiete zu vereinen: nämlich Philosophie, Religion und Wissenschaft. Die Quellen, aus denen Blavatskaja für die Konstruktion ihrer Lehre schöpft sind dabei sehr vielfältig. Als besonders wichtig erwiesen sich die Kabbala, Hermetik, Gnostik, Alchemie, Überlieferungen antiker Mysterienkulte. Aber auch philosophische Systeme standen Pate, so der Platonismus, der Neoplatonismus, der Pythagoreismus, die mittelalterliche spekultative Mystik und der französische Okkultismus. Entscheidend ist der enge Bezug zum östlichen Denken (vor allem zum Buddhismus), der das gesamte Konzept prägt.

Trotz teilweise verwickelter Symbolik und Sprache tritt uns letztendlich ein konsequent strukturiertes Denksystem entgegen.

Umfassenste Grundlage des theosophischen Synthesegedankens bildet die Vorstellung von der All-Einheit der Welt. Danach hat sich alles, was existiert ursprünglich von einer als "göttliche Urflamme" zu bezeichnenden Basis abgespalten. Die Welt zerfiel in einzelne Teile, die nach genau festgelegten Gesetzen strukturiert ist. Nach Durchschreiten vielfältiger Entwicklungsstufen finden die Wesen schließlich in diese Einheit zurück. Die All-Einheit ist aber erst auf der höchsten Stufe für den Einzelnen erlebbar.

Um den Wert des Lebens richtig zu schätzen und eine alle Lebewesen gleichermaßen umfassende Achtung zu entwickeln, ist es notwenidg, sich immer die Verbindung mit der All-Natur vor Augen zu führen. Auf dem Wege zur Wiedervereinigung mit dem All-Einen kommt dem Menschen erstrangige Bedeutung zu. Ihm wird es als erstem möglich sein, sich wieder mit dem göttlichen Urgrund zu verbinden. Derjenige, welcher diesen Zustand vollkommenen Bewußtseins erreicht hat, wird zum Gottmenschen. Dieser vereint sein hochentwickeltes Eigenbewußtsein mit dem göttlichen All-Bewußtsein. Dabei kommt es nicht zur Auslöschung der Individualität, sondern zu deren höchstmöglicher Entfaltung, die allerdings nur in vollkommener Harmonie mit allen anderen zu erreichen ist.

Theosophie versteht sich hier als ein System, das einen persönlichen Gott ablehnt, ohne auf das Göttliche zu verzichten. Gott wird im Prinzip als die Urflamme, die ursprüngliche Einheit des All-Bewußseins verstanden, aus der alles emanierte und in die alles zurückkehren wird. Die Theosophen gehen davon aus, daß diese Urflamme, die immanente und transzendente Gottheit des Universums keine Attribute haben kann. Einen Gott, der als Person denkbar und gleichzeitig absolut sei, dürfe man sich nicht darunter vorstellen. Innerhalb der geistigen Hierarchie existieren auf den verschiedenen Stufen allerdings immer bewußtseinsmäßig weiterentwickelte Wesen, die den weniger Entwickelten wie Götter vorkommen und auch als solche qualifiziert werden.

Ihre Grundkonzeption erläutert Blavatskaja in einem grandiosen, verschiedene Weltepochen uzmfassenden Entwurf, der die kosmische und menschliche Entwicklung gleichermaßen einbezieht. Dabei liefert sie sehr viel Information über Geschichte, Legenden, Symbolik des Altertums, gepaart mit Hinweisen auf neuste wissenschaftliche Entdeckungen. Angestrebt wird ein alle Bereiche menschlichen Seins in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umfassendes Weltbild.

Göttliche Weisheit, Gottfindung, Gottmenschentum, Überwindung der Spaltung, Harmonie, Interesse für alte Überlieferungen, ferne Länder, der Hauch des Geheimnisvollen, Möglichkeiten der Erarbeitung völlig neuer Visionen von Mensch und Gesellschaft - die Theosopie hatte in ihrem Arsenal ein breites Spektrum von Fragestellungen, die die durch eine forcierte Sinnsuche gekennzeichnete Gesellschaft der Jahrhundertwende in ihren Bann zu ziehen begann.

Nicht nur in Westeuropa, sondern auch in Rußland war die Intelligenz bestrebt, die Grenzen, die durch das wissenschaftliche, atheistische, materalistische Denken, durch die ausschließliche Bezugnahme auf die Erscheinungswelt der Erkenntnis gesetzt wurden, zu überwinden und zum Wesen der Dinge vorzudringen. Der seit der Aufklärung die europäische Geistesgeschichte vor allem prägende Rationalismus hatte im Verständnis vieler Schriftsteller und Philsophen zu einer Atomisieriung und Zerstückelung von Denken und Gesellschaft geführt, die überwunden werden müsse. Die bis dahin als vor allem sinnstiftend betrachtete chrsitliche Kirche verlor zumindest als Institution für viele Intellektuelle den Stellenwert, wirklicher Träger geistiger und gesellschaftlicher Erneuerung sein zu können. Man wollte Gott neu entdecken, das Chrsitentum neu beleben oder Impulse aus Jahrtausendene alten, aber inzwischen fast völlig vergessenen Überlieferungen beziehen.

Diesen Drang nach Visionen konnte die Theosophie, aufgrund ihrer Universalität, wenigstens auf den ersten Blick sehr gut befriedigen. Sie wurde damit in Europa und etwas verspätet auch in Rußland zu einer wichtigen Instanz, die die geistige Landschaft nachhaltiger beeinflußte, als oft dargestellt und zugegeben wird. In Rußland bildeten sich schon lange vor der Gründung der "Rossijskoe Teosofičeskoe Obščestvo" (1908) kleinere theosophische Gesprächskreise heraus, die ungefähr dieselbe Wirkung auf das geistig-kulturelle Leben hatten, wie die literarischen Salons im 18. und 19. Jahrhundert. Spätestens nach der Gründung der Russischen Thesosphischen Gesellschaft gab es dann theosophische Zirkel bzw. Sektionen nicht nur in den Zentren Moskau und Petersburg, sondern auch in der Provinz, z. B.: in Kaluga, Jalta, Rostov am Don, Riga, Poltava, Jaroslavl', Kiev. Die Arbeit dieser Gemeinschaften trug auch sehr rasch Früchte, so daß wir im Rußland der Jahrhundertwende eine ganze Reihe von Künstlern und Literaten haben, die sich entweder intensiv mit dem Phänomen Theosophie auseinandersetzten, bzw. sich zuerst dafür interessierten und dann scharf mit ihr polemisierten oder sogar zu Adepten E. P. Blavatskajas und ihrer Lehre wurden. Einige Beispiele sollen das verdeutlichen.

Bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts begann das literarische Interesse an den Ideen E. P. Blavatskajs vor allem bei den sogenannten "Literaten der zweiten Garnitur" einen ersten Niederschlag zu finden. Zu nennen wären in diesem Zusammenhang Vs. Solov'ev und V. Kryžanovskaja. Das an Exotik und Geheimnisvollen gleichermaßen interessierte Massenpublikum erhielt hier einen ersten Eindruck vom theosophischen Gedankengut, das allerdings durch einen extrem subjektivistischen Zugang der einzelnen Autoren vermittelt wurde.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts finden wir "theosophische Spuren" bei den inzwischen auf das Phänomen aufmerksam gewordenen, die Literatur entscheidend prägenden Autoren. Dabei war das Spektrum der Art der Auseinandersetzung sehr breit. So haben wir es beim Altmeister des Realismus in Rußland L. N. Tolstoj mit einem kritischen Interesse zu tun. Tolstoj war eine Zeitlang Abonnent einiger europäischer Theosophischer Zeitschriften und wurde noch kurz vor seinem Tod ein Leser des russischen "Vestnik teosofii". Er las verschiedene Schriften östlichen Denkens, die unter maßgeblicher Beteiligung der theosophschen Gesellschaft übersetzt worden waren und interessierte sich nachweislich auch für die Schriften von E. P. Blavatskaja selbst. Aus ihrem Buch "The voice of the silence" übernahm er sogar einige Aphorismen in seinen Sammelband "Na každyj den'". Obwohl er auch mit führenden russischen Theosophen persönlich bekannt war, blieb seine Haltung gegenüber der theosophischen Lehre bis zuletzt distanziert kritisch. Eine entscheidene Wirkung auf seine Schriften läßt sich nicht ausmachen, wenn man über die grundsätzlich positive Einstellung zu bestimmten Postulaten östlichen Denkens (wie etwa dem Bösen keinen Widerstand mit Gewalt leisten zu wollen) hinausgehen will.

Tiefgreifender und nachhaltiger sind demgegenüber die Wirkungen, die das theosophische Denken auf eine sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Rußland neu konstituierende literarische Richtung ausübte. Gemeint ist der russische Symbolismus. In diesem Zusammenhang wären zum Beispiel zu nennen: K. Bal'mont, N. Minskij, M. Vološin, A. Belyj, A. Blok, A. Remizov, V. Ivanov. Dabei ist bei einigen von ihnen in der Rezeption theosophischen Gedankengutes eine Zäsur auszumachen, in Form des Bruchs mit der von E. P. Blavatskaja mehr dem östlichen Denken verpflichteten Theosophie und eines Übergangs zur von R. Steiner aus theosophischen Prämissen entwickelten, sich auf westliche Denktraditionen berufenden Anthroposophie. Dennoch kann man von einer den russischen Symbolimus stark beeinflussenden theosophischen Wirkung sprechen, die bisher so gut wie nicht erforscht ist.

Diese Breite des Wirkungsimpulses hängt sicher damit zusammen, daß das Weltbild im russischen Symbolismus mehr als bei anderen literarischen Richtungen zu einem Faktor literaturwissenschaftlicher Relevanz wird, "da das Weltbild in diesem besonderem Fall, die Vielfalt der künstlerischen Bildsymbole generiert."(G. Langer, 1988, 25). Gerade der Entwurf eines neuen Weltverständnisses ist es ja, der von der Thesopischen Lehre angestrebt wird, wobei alle Seiten menschlicher Interessen (von der kosmischen bis zur menschlichen Evolution) abgedeckt werden sollten. Gerade für den Symbolismus so zentrale Bilder wie Licht, Feuer, Sonne, Spiegel, Luzifer etc. lassen sich nicht nur aus der allgemeinen Rezeption mystischer Schriften erklären, sondern weisen oft, gerade durch den Kontext in welchem sie verwendet werden, auf ihren eindeutigen Bezug zu theosphischem Gedankengut hin. Dennoch blieb die symbolistische Haltung oft distanziert genug, um nicht einfache Plagiate theosopischer Postulate anzufertigen.

Jedoch gab es auch Autoren, die sich selbst nicht nur als Rezipienten und Umschöpfer der Theosophie verstanden, sondern die sich als Adepten E. P. Blavatskajs und ihrer Lehre sahen. Gemeint sind N. K. und E. I. Rerich. Setzt man sich mit der Malerei N. K. Rerichs in der Fachwelt noch relativ intensiv auseinander, bleiben sein poetisches Wirken genau wie die Schriften seiner Frau beinahe völlig außerhalb eines slavistischen Interesses. Dabei bietet hier die besondere Mischung aus östlichem Mystizismus, gepaart mit russischem nationalen Patriotismus und einem bestimmten exotischen Verständniß des russischen sozialistischen Experiments neue Einsichten in das eine bestimmte Gruppe von Intellektuellen prägende Weltverständnis.

Der Wirkungsradius der Theosophie blieb allerdings nicht nur auf die Literatur beschränkt. Russische Philosophen setzten sich in unterschiedlicher Weise damit auseinander, berührten doch theosophische Schriften gerade jene Grundfragen, die auch für philosophisches Denken immer entscheidend waren.

Von einer Kenntnisnahme der theosophischen Schriften und dem Bestreben dazu Stellung zu nehmen zeugen zum Beispiel einige Werke N. Berdjaevs, obwohl die Theosophie hier im Gesamtschaffen keine prägenden Spuren hinerließ.

Ein anderes Bild bietet das Schaffen des Philosophen Vladimir Solov'ev. Beschäftigt man sich mit seinem Gedankenkosmos, fällt auf, daß die Auseinandersetzung mit dem Osten eine Grundtendenz seines gesamten Werkes ausmacht. Hier spielt auch die intensive, wenn auch nicht sofort offensichtliche Auseinandersetzung mit der Thesosphie E. P. Blavatskajs eine bedeutende Rolle. Das nicht zuletzt durch seinen Bruder Vsevolod hervorgerufene Interesse an den Ideen Blavatskajas führt zu einer Polemik, die in einigen Schriften sehr deutlich zutage tritt. Sie ist zum Besipiel sehr konkret in seinem bakannten Werk "Povest' ob Antichriste" (1899) nachzuweisen. Solov'ev selbst gibt sich allerdings große Mühe, die Stoßrichtung seiner Polemik nicht zu deutlich werden zu lassen, denn er wollte sich nicht kompromittieren, indem er zugab eine Lehre wie die theosophische ernst zu nehemn. Das genaue Aufzeigen seiner Auseinandersetzung mit E. P. Blavastkaja würde seinem Werk allerdings eine erweiterte Rezeptionsdimension verleihen und neue Einblicke in das Schaffen eines der bedeutensten russischen Philosophen ermöglichen.

Ähnlich wichtig für die Entschlüsselung seiner Denkens wäre die Verfolgung theosohischer Spuren im Schaffen eines weiteren russischen Philosophen: V. V. Rozanov. Sein Interesse für antike Legenden, Mythen und Mysterienkulte ließ ihn auch an den theosophischen Schriften nicht vorbeikommen. Hier würde der theosphische Hintergrund Ansätze zur adäquaten Entschlüsselung seiner teilweise recht komplizierten Symbolik liefern.

Die Auseinandersetzung mit thesosophischen Wirkungen in der russischen Philosophie, ermöglicht schließlich auch einen Zugang zu bis vor kurzem fast vergessenen russischen Denkern zu erhalten. Einige von ihnen werden im Zuge der Aufarbeitung russischen vorrevolutionären Kulturgutes wieder verlegt und mit Erfolg verkauft. Unter ihnen ist P. D. Uspenskij. Uspenskij war selbst einige Zeit Mitglied der Theosphischen Gesellschaft bis er ihr den Rücken kehrte, da sie seine Suche nach dem "Wunderbaren" nicht mehr zu beflügeln vermochte. Allerdings stehen viele seiner zentralen Werke unter stark theosophischen Einfluß. Hier ist besonders interessant wie Uspenskij, das mehr auf intuitiver Erkenntnis beruhende System Blavatskajas in strenge, teilweise naturwissenschaftlich determinierte, logische Kategorien zu bringen versucht und es ihm dadurch gelingt, eine bestimmte, dem strengen wissenschaftlichen Denken angepaßte Ordnung hineinzubringen.

Um das Bild abzurunden sei noch erwähnt, daß sich der Schauspieler M. A. Čechov für theosophisch-anthroposophische Literatur interessierte und sich der Maler V. Kadinskij ebenfalls teilweise von den Ideen E. P. Blavatskajs inspirieren ließ.

Die Relevanz der Erforschung theosophischer Wirkungen in der russischen Literatur- und Kulturgeschichte ergibt sich auch aus einigen weiteren Umständen. Theosophische Postulate trugen auch dazu bei, Konzeptionen, die sich um die Problematik "Russische Idee" ranken, in gewisser Hinsicht zu beeinflusen. Vorstellungen von Missionen bestimmter Völker zu bestimmten Zeiten führten nicht selten auch zur Nutzung theosophischen Gedankenguts für nationale Entwürfe. Die Theosophen, die ursprünglich jedweden Nationalismus ablehnten, da er ihren kosmopolitischen Vorstellungen von der Gleichberechtigung aller Völker und Nationen widersprochen hätte, sahen ihre Thesen dennoch teilweise als Untermauerung der Vorstellung von einer bestimmten Mission des russischen Volkes fehlinterpretiert. In diesem Zusammenhang wäre es wichtig auf die Grenzen und die, wenn auch nicht intendierten, so doch vorhandenen Gefahren des theosophischen Weltbildes hinzuweisen, wobei allerdings die von R. Steiner ins Leben gerufene Anthroposophie viel detaillierter sogenannte "Missionen einzelner Volksseelen" herausarbeitete.

Ein weiteres Indiz für die Wichtigkeit der Aufarbeitung theosophischer Wirkungen in der russischen Literatur und Kultur ist die enge Beziehung, die sie mit der russischen Frauenbewegung und der Frauenbewegung insgesamt verbindet. Viele führende Theosophen waren Frauen, die hier auf allen Ebenen ihre Kompetenz und Sachkenntnis unter Beweis stellten. Es besteht die Möglichkeit, die spezifisch weibliche Sicht der Lösung bestimmter Daseinsfragen zu untersuchen. Russische Autorinnen, z. B.: V. Kryžanovskaja, die vor allem wegen ihres "Geschlechts" von der Kritik oft nicht ernst genommen wurden, könnten so in ihrer künstlerischen Leistung umfassende postume Würdigung erfahren.

Es ist auch dringend darauf hinzuweisen, daß die Wichtigkeit der Aufarbeitung der theosophischen Thematik auch dadurch gegeben ist, daß die russische Gesellschaft in den letzten Jahren mit theosophischen Publikationen überschüttet wird, die auf eine so gut wie nicht auf den Umgang mit diesen Schriften vorbereitete Öffentlichkeit stößt. Hier würde eine kulturgeschichtliche Aufarbeitung dazu dienen, überzogene Hoffnungen zu relativieren, Grenzen des theosophischen Weltbildes aufzuzeigen, aber auch einer inkompetenten Ignoranz entgegenzuwirken, die umso gefährlicher ist, da sie den angebotenen Ideen keine professionelle Kritik, sondern nur leere Phrasen entegenzusetzen weiß.

Von dem auch internationalen Interesse an den Werken E. P. Blavatskajas zeugt der Umstand, daß das Jahr ihres 100. Todestages, 1991, von der UNESCO als Gedenkjahr proklamiert wurde. In diesem Jahr wurde auch die "Rossijskoe Teosofičeskoe Obščestvo" neu gegründet. Zahlreiche Festveranstaltungen zogen die Aufmerksamkeit der breiten Öffentlichkeit auf sich.

Forschungsstand

Die Theosophische Bewegung wurde bisher im internationalen Maßstab vor allem von Adepten aufgearbeitet, die selten einen objektiv-kritischen Zugang hatten. Eine weitere Gruppe, die sich mit Theosophie kritisch auseinandersetzt, stellen die Anthroposophen dar. Da die Theosophie hier als "überwundenes" Gedankengut gilt, fallen die Wertungen entsprechend subjektvistisch aus.

Für die Slavistik ist festzustellen, daß eine Aufarbeitung theosophischer Wirkungen in der russischen Literatur- und Kulturgeschichte über Jahrzehnte hinweg unterlassen wurde.

Für die westeuropäische Forschung ist diese Zurückhaltung damit zu erklären, daß man Gefahr lief, sich durch ein entsprechendes wissenschaftliches Interesse zu kompromittieren. Zum einen war Blavatskaja als Persönlichkeit in den Medien nach und nach demontiert und unmöglich gemacht worden, zum anderen galt alles, was von einem christlichen oder streng wissenschaftlich determinierten Weltbild abwich als suspekt und wurde sehr rasch in Verbindung gebracht mit dem Unwesen, das einige esoterisch angehauchte Sekten in Westeuropa bereits trieben.

In Rußland verhinderte die allmächtige Parteiideologie von vornherein jede ernsthafte Auseinandersetzung mit nichtmarxistischem Gedankengut.

Der gestiegenen Popularität thesosophischer Schriften in Rußland wird erst in den letzen Jahren ansatzweise in slavistischen Publikationen Rechnung getragen. Dabei richtet sich das Interesse doch letztendlich vorrangig auf die von R. Steiner, theosophische Ideen, weiter- und umdenkende Antroposophie. Diese, vor allem die Wichtigkeit des "Christus-Impulses" für die Weltentwicklung akzentuierende Richtung ist dem europäischen Forscher meistens grundsätzlich näher, als das östliches Denken favorisierende, exotisch anmutende theosophische Konzept.

In den vorhandenen Untersuchungen werden vor allem zwei Aspekte der Herangehensweise deutlich. Zum einen haben wir es mit einer biographisch orientierten Betrachtung zu tun, die in der Widersprüchlichkeit des Lebensweges E. P. Blavatskajas Gründe für die Widersprüchlichkeit ihrer Lehren sucht. Spektakuläre Ereignisse ihrer Biographie werden immer wieder ins Gespräch gebracht, besonders ihre unglücklichen Versuche "übernatürliche" Phänomene hervorzubringen. Diese gelten dann als unwiederlegbarer Bweseis dafür, daß sie nichts weiter als eine Hochstaplerin sein konnte, ohne daß eine tatsächliche intensive Auseinandersetzung mit ihren Werken erfolgte. Sicher ist keine umfassende Werkanalyse unter völliger Ausschaltung der Autorenpersönlichkeit möglich, doch führt eine solche vordergründig durchgeführthe ausschließliche Fixierung auf biographische Details zu einem unzulässigen Reduktionismus. Allerdings gibt es gerade in feministisch ausgerichteten Untersuchungen Ansätze, die Bedeutung dieser Umstände etwas zu relativieren.

Den zweiten Aspekt des slavistischen Zugangs zur Thesophischen Bewegung könnte man als kultur-historisch bezeichnen. Als fundamentalstes Werk wäre in diesem Zusammenhang zu nennen: M. Carlson: "'No religion higher than truth': a history of the Theosophical movement in Russia 1875-1922" (1993). Es ist die bisher einzige slavistische Monographie, die speziell zu dieser Thematik erarbeitet wurde. Die Monographie ist als detaillierte Dokumentation konzipiert, der es vor allem um vollständige Aufschlüsselung von Namen, Daten und Orten geht, die mit der Russischen Theosophischen Bewegung in Beziehung stehen bzw. standen. Wirkungsästhetische Aspekte werden auf jeweils 4 Seiten für A. Belyj und N. K. Rerich angedeutet, ohne umfassende Einsichten ins Gesamtwerk zu liefern. Der tatsächliche Nachweis theosophischer Wirkungen in Literatur- und Kulturgeschichte fehlt. Er wird bestenfalls für die entsprechenden Autoren konstatiert.

Ansätze zur Einbeziehung der theosophischen Thematik in den kulturgeschichtlichen Diskurs finden sich vereinzelt in der slavistischen Zeitschriftenlansdschaft. Akzentuiert wird der enge Zusammenhang der Theosophischen Bewegung mit der Herausbildung eines "neuen religiösen Beweußtseins" im Rußland des Jahrhundertbeginns. Dabei widmet man der Theosophie oft unter anderen ein paar Sätze.

Zielstellung und Methode

Mit der geplanten Habilitationsschrift sollen im Gegensatz zu den bisherigen Abhandlungen zur Problematik theosophische Wirkungen auf Dichter und Philosophen nicht nur konstatiert, sondern im Werk nachgewiesen werden. Dazu erfolgt eine Auswahl der repräsentativsten Autoren, um den Rahmen der Arbeit nicht zu sprengen.

Bei der Analyse des Schaffens einzelner Autoren, wird davon ausgegangen, daß immer das Gesamtwerk im Auge behalten werden muß, auch wenn es in einem bestimmten Stadium der schöpferischen Evolution einen Bruch mit der Theosophie gegeben hat. Die vollständige Überwindung einmal geprägter Denkmuster war nicht immer möglich. In diesen Fällen soll dann versucht werden, die Gründe für die Abwendung von der Theosophie und die Richtung der Neuorientierung genau zu analysieren.

Bei der konkreten Werkanalyse sollen verschiedene Ebenen betrachtet werden. Es ist einmal die biographische Ebene zu beachten, die Auskunft darüber gibt, inwieweit der jeweilige Autor persönlich in die Theosophische Bewegung involviert war. Daran schließt sich die Analyse des Weltbildes des Dichters oder Philosophen an. Es sind teilweise sehr interessante Erkenntnisse darüber zu erwarten, wie die Rezeption der Umwelt, durch das theosophisce Raster wahrgenommen, die Aufmerksamkeit auf teilweise unwichtig erscheinende Details fixieren läßt und normalerweise wichtige Ereignisse relativiert werden. Damit ist auch ein spezifisch neuer Einblick in die Gründe zu erwarten, warum die russische Intelligenz die Katastrophen des Jahrhundertbeginns so ambivalent verarbeitete. Als weiterer Untersuchungsaspekt fungiert der wirkungsästhetische. Es wird eine detaillierte Werkanalyse angestrebt. Aufgezeigt werden soll, wie bestimmte poetologische Systeme, die Verwendung einzelner Symbole, Metaphern etc. unter maßgeblicher Beteiligung der Theosophie zustande kamen. Es kann erwartet werden, daß sich dabei einige Werke unter völlig neuem Blickwinkel erschließen lassen.

Hinsichtlich der Analyse philosophischer Schriften soll besondere Aufmerksamkeit der Frage gewidmet werden, inwieweit die Auseinandersetzung mit der Thesosophie dem Denken einzelner Autoren eine neue Richtung gab, eventuell sogar zu einem veränderten Begriffsarsenal führte.

Um die Untersuchungsergebisse so eindeutig wie möglich zu machen, wird es notwendig sein, die Wirkungen der Theosophie von möglichen Wirkungen anderer philosophischer oder religiöser Systeme (z. B.: Mystik allgemein, okkulte Schriften, Anthroposophie etc.) abzugrenzen.

Dabei muß man die Theosophie als komplizoiert strukturiertes, aber autonomes Denksystem begreifen. Sie ausschließlich als Philosophie oder als Religion oder als Pseudowissenschaft zu beschreiben wird ihr nicht gerecht.

Die Thematik ordnet sich damit in die allgemeine Diskussion um die Besonderheiten des russischen idealistischen Denkens ein, das insgesamt anders als in Westeuropa oft Philsosophie nicht von Religion oder Mystik trennte.

Eine Möglichkeit "Theosophie" als System zu begreifen bietet der "funktionale Religionsbegriff", der religiöse Überzeugunguen als Konsens definiert auf den sich bestimmte Gruppen, während einer bestimmten Zeitspanne einigen. In einen sich zu Beginn des 20. Jahrunderts herausbilden wollenden neuen Konsens brachte die Theosphie ihren Beitrag ein.

Hinsichtlich der Untersuchung theosophsicher Wirkungen bei den verschiedenen Autoren, soll auch beleuchtet werden, welcher Aspekt der Lehre bei dem einen oder anderem Autor das größte Interesse fand: war es der relgiöse, der philosophische, der pseudowissenschaftlicihe, oder waren es die poetisch beschriebenen alten Legenden, Beschreibungn alter Mysterienkulte o. ä.

Die Arbeit soll sich insgesamt auch in den Diskurs um die Stellung Rußlands zwischen Ost und West einordnen. Wurde bisher verständlicherweise die Beziehung zum westlchen Kulturgut immer vordergründig akzentuiert, bietet die Auseinandersetzung Rußlands mit der theosphischen Lehre, doch einmal die Möglichketi, den Blick Rußlands nach Osten und die diesbezüglichen Schwierigkeiten nachzuvollziehen. Dies erweist sich vor allem in der heutigen Zeit als unabdingbar, wo Rußland unter anderem gerade eine Renaissance des Intereses am Osten erfährt.

Grobgliederung

Aus dem bisher gesichteten Material ergibt sich folgende Grobgliederung der Arbeit:

1.) Das theosophische Weltbild und die russische Literatur
1.1.) Anfänge der literarischen Rezeption und Verbreitung theosophischer Ideen druch Autoren der "zweiten Reihe" (Vs. Solov'ev, V. I. Kryžanovskaja)
1.2.) Im Labyrinth der Bilder. Der russische Symbolismus und seine Begegnung mit der Theosophie (A. Belyj, V. Ivanov, K. Bal'mont, M. Vološin, V. Brjusov)
1.3.) Zwischen Adeptschaft und eigenen Visionen (N. K. Rerich, E. I. Rerich)

Zeitplan

[...]

Vorarbeiten

- im Rahmen der Herausgabe eines Sammelbandes zur russischen Frauenliteratur vom Institut für Slavsitik/Abt. Literaturwissenschaft (Dr. Göpfert) Veröffentlichung eines Aufsatzes zu "Solov'ev und Blavatskaja" - (siehe Litertauverzeichnis)

- geplant ist aus dafür gesammelten und noch nicht verarbeiteten Material eine Studie über Vsevolod Solov'ev und sein Verhältnis zur theosophischen Gesellschaft für Anzeiger für slawische Philologie

- desweiteren werden Veröffentlichungen zum Verhältnis A. Belyjs zur Theosophie und Anthroposophie vorbereitet

- im Rahmen der Vorbereitung für Lehrveranstaltungen Beschäftigung mit russischer Philosophie und über die reine Lehrvorbereitung hinausgehende Materialsammlung

Kooperation

Es bestehen Kooperationskontakte zu folgenden Institutionen: Institut für Weltlitertaur (Moskau), Institut für Russische Litertaur (St. Petersburg), Universität Kazan', Universität Gießen, Forschungsschwerpunkt "Europäische Aufklärung" (Potsdam), Forschungsgruppe "Russische Philosophie".

Derzeit Anknüpfung von wiss. Kontakten zur Universität München.


   

Keine Kommentare: