29.09.2011

Stationen

Endlich ICH. Transsexuelle ErlebnisweltenStationen



Stationen

In: Endlich ICH. Transsexuelle Erlebniswelten
Selbstverlag 2000, ISBN 3-00-007084-2, S. 105 - 110



1.)

"Ich kann mich nicht an meinen ersten Schrei erinnern, der durch die Begegnung mit der mir fremden Welt ausgelöst wurde. Ich weiß jedoch auf das bestimmteste, daß ich von Anbeginn mich als Kömmling empfand, der in eine ihm fremde Welt geriet."

Immer wieder lese ich die Zeilen Nikolaj Berdjaews, meines Lieblingsphilosophen. Zu genau spricht er gerade das aus, was ich empfinde, seit ich mich bewußt als Person wahrnehme. Oft kann ich mich von dieser Lektüre die ganze Nacht hindurch nicht losreißen.

"Das Lebensempfinden, von dem ich spreche, möchte ich als Lebensfremdheit, als eine Ablehnung der Gegebenheiten der Welt, als Nicht-Verschmolzensein, Nicht-Verwurzeltsein in der Erde, als krankhafte Abkehr vom Alltäglichen definieren." Richtig. Ich finde es beruhigend, daß ich jemand kenne und sei es nur auf dem Papier, der das empfand, was ich empfinde.

"Was mir aber stets sehr quälend und schlimm erschien, war mein furchtbares Angewidertsein vom Leben. Vor allem bin ich ein Mensch, den es ekelt, und dieser Ekel ist körperlicher und geistiger Natur. Ich habe mich bemüht, das zu überwinden, aber vergebens. Dabei spüre ich fast gar keine Verachtung; ich verachte niemanden und ich verachte nichts. Aber dieser Ekel ist grauenhaft. Er hat mich mein ganzes Leben lang gepeinigt, so beispielsweise im Hinblick auf das Essen. Das Angewidertsein wird von der physiologischen Seite des Lebens hervorgerufen. Ich habe mein Leben - infolge dieses Angewidertseins mit halbgeschlossenen Augen und Nase gelebt."

Ich schließe das Buch. Zu sehr berühren mich die Zeilen und wühlen mein Inneres auf.

Ja, ja - Weltekel, Weltschmerz, Welthaß. Selbsthaß.

Ich mich, weil ich meinen Körper hasse. Er wäre das Tor zu dieser mir verschlossenen Welt. Das Tor ist verriegelt. Es ist nicht mein Körper!

Doch Berdjaew fand für sich die Lösung im Denken, im Philosophieren, im Kopf. Er hat doch recht! Nur der Kopf zählt, der Geist. Der Körper ist Ballast und behindert das wahre Leben und irgendwann wird man ihn sowieso abwerfen. Dann wird man frei sein.

Alle Religionen bestätigen es. Der Körper ist sündig, der Körper ist wertlos, ist Hülle, die zerfällt, ist gar Strafe.

Wie gut also, daß ich ihn hasse, diesen Körper. Sollen die anderen sich doch auf Abwege begeben, mit ihrem Körperkult und Schönheitskult. Wahrscheinlich habe ich auf diese Weise sogar die besten Voraussetzungen, dem zu widerstehen.

Ich will das Buch wieder aufschlagen. Gut in Büchern bestätigt zu finden, was man sich selbst gerade erdacht hat.

Stechender Schmerz. Eine Migräne kündigt sich an. Ich gehe in die Küche und greife zur Schachtel mit den Kopfschmerztabletten. Seit einiger Zeit wundere ich mich, warum mein Kopf immer öfter streikt, wenn ich mich losreißen will von der Alltäglichkeit und durch die Bücher Ausflüge unternehme, in das mir einzig als wirklich erscheinende Leben. Muß ich vielleicht zugeben, daß ich mich irre?! Stimmt doch etwas nicht an meiner Weltphilosophie? Immer hartnäckiger wird der Gedanke. Seit einigen Wochen schon läßt er sich nicht mehr verdrängen. Immer wieder versuche ich, diese Gefühle zu bekämpfen, aber sie scheinen mir etwas sagen zu wollen, worauf ich keine Lust habe, es zu hören. Schon lange soll mir der Kopf die Nachricht übermitteln und nun streikt er.

Natürlich weiß ich es längst. Ich stelle mich vor den Spiegel, um mir einmal ins Gesicht zu sagen, was ich über mich weiß und um zu sehen, wie mein Spiegelbild auf diese Eröffnung reagiert. Ich postiere mich vor der glatten, kalten Fläche. Ich sehe den Spiegel an, er sieht mich an. Ich weiß, wir mögen uns nicht. Er zeigt mir ein schrecklich verzerrtes, ein falsches Gesicht. Einen dünnen Hals. Zarte blasse Haut, die auch davon nicht derber wird, daß ich sie jeden Sommer stundenlang in die Sonne halte. Dünne Arme, schmale Schultern, eben einen Frauenkörper. Manchmal wird mir eiskalt, wenn ich das sehe, manchmal packt mich die Wut. Diesmal siegt die Wut.

Ich muß es endlich einmal aussprechen. Ich hasse die Welt, da ich meinen Körper hasse. Ich hasse diesen weiblichen Körper. Es ist nicht mein Körper. Es ist der falsche Körper. Ich möchte der Welt entfliehen, weil ich diesem Körper entfliehen möchte. Denn: Ich bin ein Mann!

Ich schreie es dem Spiegelbild ins Gesicht. Er verzieht sich zur Grimasse, aber hinter der Grimasse kommt ein Lächeln zum Vorschein. Ein sich für Sekunden befreiendes Lächeln.

Aber wer soll das begreifen? Keiner wird es verstehen!

Nur diese Weltflüchtlinge, Asketen, von denen die Bücherwelt berichtet, die mögen ähnliches gefühlt haben, wenn vielleicht auch aus anderen Gründen.

Aber die kann ich nicht mehr fragen.


2.)

Ich bin bei Freunden eingeladen. Inzwischen kenne ich das Wort "Transsexualität". Ich habe mir Bücher darüber besorgt. Ich versuche, das erste Mal zu benennen, was mich plagt, als es zu einer Diskussion über Unterschiede zwischen Frauen und Männern kommt.

"Es gibt aber auch weibliche Seelen in männlichen Körpern und männliche Seelen in weiblichen Körpern."

Ich sage es so, wie ich es für mich verstanden habe. Ich bin ein Mann in einem mir völlig fremden Körper.

Pause. Einige starren mich an.

"Es gibt überhaupt keine Seelen", lacht Klaus und ich bin froh, daß er die Gelegenheit nicht nutzt, um eine Erziehungsstunde im Fach Atheismus abzuhalten. Polemik zwischen Religion und Atheismus ist sein Spezialgebiet, und gewöhnlich schafft er es mit durchdringender Stimme und zwingenden Gebärden, die gesamte Runde verstummen zu lassen. Da ihn aber diesmal Barbara mehr interessiert als jede Diskussion, wendet er sich ihr wieder zu und gibt mir die Chance, weiterzumachen.

"Man muß es ja nicht Seele nennen. Man kann auch Bewußtsein sagen. Empfinden. Fühlen ..."

"Wenn schon, dann gibt es nur neutrale Seelen. Erst ist die Seele neutral, dann kommt sie in den Körper und wird rein formal dem männlichen oder dem weiblichen Geschlecht zugeordnet. Aber im Prinzip gibt es gar kein Geschlecht. Das haben sich die Ideologen des Patriarchats nur ausgedacht, um ihre Herrschaft über die Frauen aufrechtzuerhalten."

Das war Cornelia, die Feministin und sie ist bereit, mich für jeden weiteren Satz in der Luft zu zerreißen.

Aber wer soll solch komplizierte Prozesse hier auch klären, darüber gibt es kaum abgesicherte Forschungsergebnisse, nur Thesen. Aber man muß eben alles in Begriffen fassen. Sonst kann man sich nicht mitteilen. Ich hole tief Luft und versuche es doch noch einmal:

"Also, egal, was ihr jetzt denkt. Ich fühle mich jedenfalls als Mann in einem weiblichen Körper. Ich bin transsexuell."

Jetzt starren mich alle an. Keiner lacht. Es ist eigentlich auch keiner entsetzt.

Ich weiß, daß ich es jetzt erklären müßte, genau erklären, was ich fühle. Aber die Worte fehlen. Gefühle zu beschreiben ist meine Sprache nun zu schwach. Das können vielleicht Poeten in ihren langen Gedichten. Ich bin kein Poet.

Ich beschließe, es erst richtig für mich zu klären.

Ich beginne den Dialog mit mir selbst.


3.)

Inzwischen lerne ich Transsexuelle kennen und sehe, daß es einen Weg gibt. Einen Weg des Körpers.

Doch ich versuche immer noch, mit Worten und Gedanken das Problem zu klären. Immer noch wollen mich Worte besiegen. Warum haben Worte diese Macht über mich? Noch immer versucht sich der Kopf in seiner Führungsposition zu behaupten.

Ich selbst glaube auch noch fest an seinen Sieg. Schließlich gibt es Philosophen, Asketen ... Jahrhundertealte Erfahrung kann nicht täuschen. Wichtig ist ein starker Wille, ein starker Geist. Der Weg ist laut Berdjaew: Vergeistigung des Lebens der Materie bis zu ihrer Zerstörung. Das muß einfach richtig sein.

Ich spreche mit Studenten über mein Problem. Sie haben aufmerksam zugehört, und ich kann an ihren Augen ablesen, daß sie verstanden haben. Sie haben viel gefragt, und ich scheine Worte gefunden zu haben, die überzeugend waren.

Doch ich spüre: es waren nicht nur die Worte, die gewirkt haben. Es war mehr. Was war dieses mehr?

Nach dem Unterricht will ich wieder beginnen, über mich nachzudenken, als mich ein Student anspricht. Er redet leise, traut sich nicht recht.

Ich ermuntere ihn, Platz zu nehmen.

Er setzt sich. Dann sagt er:

"Ich kann sie sehr gut verstehen. Ich kann mir vorstellen, daß es wie eine Behinderung ist."

Olaf ist behindert. Er redet weiter:

"Ich stelle es mir so vor. Der Kopf will, daß der Körper auf bestimmte Weise reagiert. Für den Kopf ist es ganz klar und logisch, daß der Körper so reagieren können müßte. Aber der Körper schafft es nicht. Das Bewußtsein hat eine genaue Vorstellung davon, wie der zu ihm gehörende gesunde Körper aussehen müßte. Das hat nichts mit übertriebenen Idealen zu tun. Es ist da einfach eine Disharmonie."

Er erzählt davon, wie schwer ihm das Studium fällt, da er sich nur schlecht konzentrieren kann. Er kann sich seine Behinderung nicht wegdenken. Es belastet ihn, immer wieder die gut gemeinten Ratschläge der anderen zu hören:

"Denk nicht dran!"

"Reiß dich zusammen!"

"Wenn man will, kann man alles!"

Er wäre froh, durch eine Operation die Behinderung zu überwinden. Aber sie ist irreparabel. Er meint, Operationsnarben verheilen eines Tages, dann können auch die Narben in der Seele, im Kopf heilen. Er kann diese letzteren Narben nie loswerden, aber er wünscht mir Glück auf meinem Weg.

Tatsächlich. Er hat Recht. Immer wieder bin ich verunsichert, wenn der Körper andere Reaktionen zeigt, als sie nach meiner Vorstellung für meine innere Befindlichkeit adäquat wären. Nach zweistündigem Unterricht, während dem mir beinahe unablässig meine hohe Stimme im Ohr vibriert, bin ich oft nervlich völlig fertig. Etwas in mir weiß, daß dies gar nicht meine richtige Stimme ist. Trotz aller Mühe kann ich sie nicht tiefer klingen lassen. Manchmal lenkt mich die Anstrengung, die mit diesem aussichtslosem Kampf verbunden ist, sogar vom Vortrag ab.

Streiche ich mir über Gesicht, Arme oder Beine, schreckt mich deren Glätte. Wo sind die borstigen Härchen, die doch zu mir gehören und die nicht wachsen wollen?

Laufe ich, will sich trotz ausladender Schritte und betont festen Auftretens die rechte Schwere der Körperbewegung nicht einstellen. Männer laufen anders, weil sie einen anderen Körperbau haben. Ständig spüre ich, daß ich irgendwie nicht so laufe, wie es für mich richtig wäre. Meine übertriebenen Versuche führen dann zu Lächerlichkeiten. Das erzeugt wieder Wut. Ich kann mich nicht mal beim erholsam wirken sollenden Spaziergang auf meine Umwelt konzentrieren. Die Disharmonie zwischen der Vorstellung von meinem Körper und seiner realen Existenz führt zur absoluten Nach-innen-kehr aller meiner Sinneswahrnehmungen.

Ich starre auf den Bücherstapel im Regal. Etwas in mir zerbricht. Ein Glaube.

Auf einem Buchrücken steht. Nikolaj Berdjaew "Reich des Geistes oder Reich des Cäsar". Warum nicht "Reich des Geistes und Reich des Cäsar"?

Philosophie. Vielleicht manchmal auch Flucht vor sich selbst. Auch der Körper hat sein Dasein. Er lebt und hat Rechte. Dialektik statt Hierarchie. Herrschaft ist vielleicht generell die falsche Lösung. Materie und Geist miteinander.

Ich nehme mir den Berdjaew aus dem Regal. Ich spüre, daß ich wieder flüchten will. Ich werfe das Buch zu Boden. Die Sekretärin steckt erschrocken den Kopf durch die Tür. Ich hebe das Buch auf, dessen Rücken einen Riß bekommen hat.

"Nun ist der Berdjaew gerissen", sage sich entschuldigend und stelle das Buch auf seinen Platz zurück.

Ich muß eine Entscheidung treffen.


4.)

Seit einem Jahr nehme ich Hormone. Testosteron. Laut Beipackzettel führen sie zur "Ausbildung der männlichen Geschlechtsmerkmale". Das klingt medizinisch kühl. Für mich bedeutet es Leben. Das erste Mal in meinem mittlerweile 32jährigem Existieren.

Nun fällt es mir schwer, in Worte zu fassen, was sich seitdem alles verändert hat. Vieles ist so tiefgreifend, daß ich mich manchmal frage, ob wirklich nur ich mich verändert habe oder nicht sogar die gesamte Welt.

Ich sinke Stück für Stück in mich hinein. Eine Scheibe zerbricht und ich komme in der Welt an.

Den Strauch da habe ich früher immer übersehen. Zu erstenmal sehe ich die unscheinbaren Knospen unter den Blättern. Ich wundere mich, daß es überhaupt Blätter mit solch sonderbaren Formen gibt. Doch die anderen bestätigen es: "Ja, der sah immer schon so aus." Nur ich habe es nicht gesehen.

Das Glas, hinter dem ich früher gelebt habe, muß sehr dick gewesen sein. Nie hätte ich vermutet, daß es draußen eine derartig bunte, farbenfrohe Welt gibt.

Plötzlich finde ich Dinge interessant, über die ich früher gelacht habe.

Einmal bleibe ich vor einem Video-Shop stehen und sehe mir die Kassetten an. Es macht mir Spaß, auch die zu betrachten, die eindeutig für das werben, was ich früher derartig öffentlich ausgestellt, einfach abartig gefunden hätte. Ich zwinge mich nicht zum Vorübergehen, sondern beschließe den Kauf.

Das Leben wird rund. Ich habe aufgehört, es einzuteilen in eine "hohe" und eine "niedere" Seite.

Ich finde plötzlich Gefallen daran, mir neue Kleidung zu kaufen. Wie bewundernswert asketisch fand ich früher das ständig wiederkehrende eintönige Grau meiner Pullover. Wie verwandelt fühle ich mich in der Motorradjacke aus schwarzem Leder. Leder hat Ausstrahlung. Ich kann es spüren. Umsonst habe ich mir früher rational zu erklären versucht, was wohl den Reiz dieser Bekleidung ausmacht.

Ich bekomme einen Körper, der beginnt, die Welt in mich einzulassen.

Breite Schultern, Muskeln, Behaarung in Gesicht, an Brust und den Beinen, eine tiefe Stimme - mit jedem Tag kann ich mehr zu mir sagen: "Das bin ich. Ich bin ein Mann. Ich heiße Björn."

Hab ich je anders gehießen?

Ich werde auch äußerlich zu dem, was ich innerlich immer schon war. Um mich herum stellt sich alles auf seinen rechten Platz. Immer weniger habe ich das Gefühl, in einer verkehrten mir völlig fremden Welt zu sein. Das Wort "zu Hause" bekommt für mich einen völlig neuen Klang. Ich bin nun in mir selbst behaust.

Manchmal habe ich das Gefühl, als sei das doch immer schon so gewesen. Als habe es kein "davor" gegeben. Keine Qual. Keinen Haß. Keinen Ekel.

Sicher, ich bin nicht schön. Doch das Spiegelbild zeigt mir lächelnd einen sympathischen Mann. Dieser Mann hat glückliche Augen.

Nur die morgendlichen und abendlichen Waschungen erinnern mich daran, daß etwas mit mir anders ist als bei anderen Männern. Mich fröstelt dann trotz des warmen Wassers. Schnell ziehe ich mich wieder an.

Der Weg ist noch nicht zu Ende. Aber ich weiß, ich werde meinen Weg gehen. Den für mich richtigen Weg. An dieser Stelle fehlen mir die Worte. Und das ist gut so.



  

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